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Der Wendekreis meines Krebses – ein Gastbeitrag von Jens Rusch Der Wendekreis meines Krebses – ein Gastbeitrag von Jens Rusch
"Die unfassbare Tsunami-Katastrophe brachte unzähligen Menschen den Tod – mir brachte sie die Kraft meines alten Lebens zurück. Mehr noch, die Umstände einer lebensbejahenden... Der Wendekreis meines Krebses – ein Gastbeitrag von Jens Rusch
Die unfassbare Tsunami-Katastrophe brachte unzähligen Menschen den Tod – mir brachte sie die Kraft meines alten Lebens zurück. Mehr noch, die Umstände einer lebensbejahenden Neugestaltung meines selbstdefinierten Restlebens sollten sich kreativer und kraftvoller entwickeln, als je erwartet. Meine erste Begegnung mit „Jiaogulan“ fand auf dem Nightmarket von Chiang Mai statt“, erzählt Haus- und Hof-Maler und Gründer der Initiative „Stark gegen Krebs“. Lesen Sie hier die ganze Geschichte.

Die unfassbare Tsunami-Katastrophe brachte unzähligen Menschen den Tod – mir brachte sie die Kraft meines alten Lebens zurück. Mehr noch, die Umstände einer lebensbejahenden Neugestaltung meines selbstdefinierten Restlebens sollten sich kreativer und kraftvoller entwickeln, als je erwartet. Meine erste Begegnung mit „Jiaogulan“ fand auf dem Nightmarket von Chiang Mai statt. Als Freund von rebusartigen Wortspielen stolperte ich zunächst über die Bezeichnung „Immortaly Tea“ auf dem Bauchschild eines Straßenverkäufers. Die Abbildung eines fünfblättrigen Fingerblattes ließ mich zunächst an einen schlitzohrigen Dealer denken. Dieser Gedanke tauchte erneut auf, als ich die gleiche Pflanze auf einem Plakat wieder erkannte, allerdings die verschnörkelte Thai – Schrift nicht verstand. Ich notierte mir die lesbare Website, die klein auf dem Plakat erkennbar war, um später im Internet der Sache nachzugehen. In deutscher Sprache waren jedoch so gut wie keine Informationen zu diesem Zeitpunkt verfügbar.
Wir befanden uns in Chiang Mai, um uns über ein Projekt von Prof. Jürgen Zimmer zu informieren, der im Dschungel dezentrale Basis-Schulen für ausgesetzte oder verwaiste Kinder entwickelte. Diese „ School for Life“ sollte das konzeptionelle Modell werden, das am anderen Ende Thailands, in Khao Lak später das großartige Projekt „ Beluga School for Life“ ergeben würde.
Wir hatten mit Freunden durch ein Benefiz-Konzert 20.000.- Euro in das Projekt eingebracht. In Chiang Mai lernte ich Kai Wingenfelder, den Sänger der in Auflösung begriffenen Band „Fury in the Slaughterhouse“ kennen, der im improvisierten Dschungelstudio mit anderen namhaften Musikern die Benefiz-CD „HOME“ produzierte. Durch die engagierte und altruistische Arbeit am gleichen Projekt wurden wir Freunde.
Zum Konzept dieser großartigen Elementar-Schulen in dezentralen Regionen gehört neben dem Unterricht in Tourismus-Marketing und traditionellen Künsten auch eine Ausbildung in ökologischem Landbau.
Und so fand ich die fünfblättrigen Pflanzen auch in den Beeten wieder, die von Aids-Waisen im Norden Thailands und von Tsunami-Waisen im Süden angelegt waren.
Dazu muss man vielleicht wissen, dass der thailändische König Bumiphol ein überzeugter Anhänger der TCM, der Traditionellen Chinesischen Medizin war. Er hatte die Mediziner seines Landes gebeten oder angewiesen, das sogenannte „ Unsterblichkeitskraut“ auf eine medizinische Relevanz und speziell auf seine mögliche Verwendung in der Onkologie zu untersuchen.
Und von genau diesen Themen handelte auch jenes ominöse Plakat, das meine Aufmerksamkeit fixiert hatte.
Im Hotel in Chiang Mai half man mir, die Inhalte und Tagungsthemen zu übersetzen, denn auf dieser Tagung über Komplementärmedizin standen bedeutende Mediziner auf der Referentenliste. Unter ihnen der inzwischen weltbekannte chinesische Onkologe Li Pei Wen. Dieser genießt das höchste Privileg eines Professors in der chinesischen Universitätshirachie: er darf Staatsratsmitglieder behandeln.
Sein Vortrag über Jiaogulan und seine Verwendung in der Onkologie dürfte die medizinische Fachwelt entscheidend beeinflusst haben. Ich hatte also – noch in Thailand – einen Informationsweg für mich entdeckt.
Da mir im Dschungel Chiang Mai’s ständig das notwendigerweise als Speichelersatz mitgeführte Trinkwasser zur Neige ging, ich aber Leitungs- und Depotwasser misstraute, begann ich, mir den „Immortaly Tea“ im Camp aufzugießen.
Hatte mir zuvor das tropische – feuchtwarme Klima und ein heftiger Durchfall durch die ungewohnte Ernährung zu schaffen gemacht, so besserte sich dieser Zustand schon nach zwei bis drei Tagen. Aber das registrierte ich lediglich am Rande. Als Krebsbetroffener, der mit den Spätfolgen zerstrahlter Speicheldrüsen und „Fatique“ zu kämpfen hat, stehen wichtigere dinge auf der Prioritätenliste.
Ich erbat mir einige Ableger meiner Entdeckung.
Zwischen nassen Tempo-Taschentüchern in einer Plastiktüte, ohne Unrechtsbewusstsein in den Koffer gelegt, erreichten meine neuen grünen Freunde Norddeutschland. Erst Jahre später, ausgelöst durch eine neue Brüsseler Spitze, erfuhr ich, dass dieser „Schmuggel“ möglicherweise unliebsame Folgen hätte haben können. Die EU-Verordnung „Novel Food“ verbietet Jahre später solche „illegalen Importe“, man spricht von „invasiven Pflanzen“ und nennt unschöne und abschreckende Beispiele von sogenannten „Bio-Invasoren“.
Doch davon ist man im Jahre 2005 noch weit entfernt. Absurde Gedanken und Konspirations-Theorien über eventuelle Einflüsse börsennotierter Pharmakonzerne beeinflussen das Internet noch nicht einmal im Ansatz.
Google verzeichnet gerade einmal drei Einträge, wenn man das Suchwort „ Jiaogulan“ eingibt.
Meine an geschützter Stelle im heimischen Brunsbütteler Garten ausgepflanzten Mitbringsel mögen den dithmarscher Marschboden anscheinend sehr.
Neben meiner Ateliertätigkeit und der Organisation der seit 2004 expandierenden Spaßveranstaltung „WATTOLÜMPIADE“ bemerke ich mich mit großer Freude, dass sich meine grünen Freunde auf dem Weg zur Dachrinne befinden.
Der Halbschatten unter unserem Feigenbaum, der sogar Früchte trägt, mag die Pflänzchen an die Urwaldheimat erinnert haben.
Ich esse täglich einige zarte Blätter, die ich ohne Plan und Konzept im Vorbeigehen abpflücke. Sie erinnern mich geschmacklich an den Sauerampfer, den wir als Kinder am Neufelder Deich gern pflückten.
Die Ergebnisse
Meine zu dem Zeitpunkt noch vierteljährlichen Nachuntersuchungen erfreuten mich und erstaunten meine Ärzte. Die Kontrolle der PSA-Werte wurde bald als überflüssig erachtet. Auch die unkontrollierbaren, ohnmachtsähnlichen „Fatique-Anfälle“ erfolgten seltener. Langsam zwar, aber in deutlich immer größeren Abständen.
Keine Einflüsse zeigten sich jedoch zunächst auf einen weiteren meiner Hauptfaktoren der Restlebensplanung. Depressive Schwankungen, unter denen ich bisweilen seit der Krebs-Diagnose leide, werden anscheinend kaum durch Jiaogulan beeinflusst. Man muss sich ohnehin in seiner Hoffnung und in seinem Glauben bezüglich Heilerwartung arg zügeln. Schon der Name „Unsterblichkeitskraut“ auch wenn er wenig mehr als eine poetische Übersetzung sein sollte, stellt aus meiner Sicht ein diskussionswürdiges Signal dar.
Im Herbst 2005 erntete ich meinen ersten, überaus stattlichen Wintervorrat, kurz bevor sich die norddeutsche Natur verfärbte. Im modernden Laub einer Dachrinne hatte die Pflanze frech Fuß gefasst und Wurzeln und Rhizome gebildet. Diese pflanzte ich in Töpfe und diese überwinterten in meinem Atelier.
Im Garten starben nach dem ersten Frost auch die kräftigsten Jiaogulan-Triebe ab. Das sah deprimierend aus, aber ich hatte ja meine Töpfe im Atelier.
Mein Plan „B“ sah vor, notfalls noch einmal nach Thailand zu fliegen, sollten meine grünen Freunde den norddeutschen Winter nicht überleben. Leider sah unsere Urlaubskasse solch eine aufwändige Reise nicht vor. Auf Sponsoren, wie die Lufthansa oder Beluga war auch nicht mehr zu hoffen.
Umso größer war meine Freude, als im März darauf die ersten Pflänzchen ihre Nasen in die noch unbeständige Frühlingsluft steckten. Deutlich mehr, als ich im Herbst gepflanzt hatte. Die Rhizome hatten sich, ähnlich wie beim unbeliebten „Giersch“ unter der Oberfläche verbreitet.
Da ich nun, zusammen mit den im Atelier inzwischen in stattlichen Hängeampeln überwinterten Pflanzen über weit mehr Zöglinge verfügte, kam mir ein folgenreicher Gedanke:
Sollte es mir gelingen, einen Betrieb zu überzeugen, mir ein Treibhaus zur Verfügung zu stellen, so könnte ich Zuchtpflanzen an andere Krebsbetroffene verschenken. (Was für mich selbst gut ist, muss ja für andere nicht unbedingt schlecht sein.)
Der nächste Schritt müsste dann eine Einschleusung in unseren oft ungesunden Ernährungskreislauf sein. Das klingt gewagt, ist aber keineswegs absurd. Schließlich wurde man in Zentral-China auf die Wirkung von Jiaogulan aufmerksam, weil in der Region VM (..?..) sehr viele Menschen leben, deren Alter deutlich über 100 Jahre liegt. Daher auch die poetisch liebevolle Umschreibung „Unsterblichkeitskraut“.
Ein Aufruf in der Lokalpresse setzte einen Stein ins Rollen. Ich konnte tausende von Setzlingen verschenken. Ein befreundeter Bäcker entwickelte gemeinsam mit einem koch ein wirkstoffschonendes Brot-Rezept. Dass dieser Koch am gleichen Zungengrund-Tumor erkrankt war, ebenfalls im Uni-Klinikum Kiel operiert wurde, hatte eine wichtige, öffentliche Resonanz. TV-Koch Thies Möller wurde und wird, genau wie ich, von Frau Prof. Ambrosch betreut, auch dieses ein wichtiges Signal für Krebsbetroffene dieser Region.
Unsere Aktivitäten im Rahmen der Benefiz-Veranstaltungen „WATTOLÜMPIADE“ erbrachten nicht nur weit über 420.000 Euro an Erträgen, die wir gemeinsam mit der Schleswig-Holsteinischen Krebsgesellschaft für sinnvolle Projekte einsetzen. Sie brachten auch Akzeptanz für komplementärmedizinische Informationen.
Die seit 2008 von uns organisierten Krebs-Informationstage ergänzen unsere Krebs-Beratungsstellen in den beiden Westküstenkliniken. Neben hochkarätigen Fachreferenten bemühe ich mich in jedem Jahr um neue Informationen von komplementärmedizinischer Relevanz. Und dazu gehört auch Jiaogulan.
Heute findet man im Internet hunderttausende Seiten über die Bedeutung dieser Pflanze – und ganz sicher wirkt sich dieser „Segen“ auf die Bilanzen von Importeuren, Händlern und Züchtern aus.
Dort, wo ein Bedarf sich seinen Weg sucht, dort entsteht naturgemäß auch ein kommerzielles Interesse. Das ist an sich noch nichts Verwerfliches. Eine lückenfreie Versorgung ist ganz ohne Zweifel im Interesse von engagierten Menschen, denen eine Verfügbarkeit für alle Krebsbetroffenen am Herzen liegt.
Übersteigt jedoch die Nachfrage diese Verfügbarkeit, dann ist der Ideenreichtum derer, denen Ertrag und Gewinn wichtiger sind, als das Wohl von Betroffenen, bisweilen kurios bis skrupellos.
Man entdeckt beispielsweise Rasenschnitt in Teemischungen, man erfuhr von Körben und Einkaufswagen, die man mit in holländischen Treibhäusern geernteten Blättern in beheizte Öfen von Töpfereien geschoben hatte. Vermutlich, damit sich die Blätter beim Trocknungsprozess so aufrollten, wie man es von diversen chinesischen Teesorten kennt.
Außerdem besorgt und besorgt man sich gern Samen, um Unmengen von wirkstoffarmen Pflanzen in Treibhäusern für den Billig-Verkauf in Baumärkten und bei Ebay zu forcieren. Der Besteller erfährt dort über die Wirksamkeit der bestellten Pflanze nichts. Wer sich am Preis orientiert, aber den therapeutischen Nutzen ignoriert, wird möglicherweise unwissentlich bestraft.
Ein wichtiger Umstand von gesetzlicher Tragweite erschwert eine klare Differenzierung: wer Produkte, und in diesem Sinne ist eine Zuchtpflanze ein Produkt, mit einem Heilversprechen in den Handel bringt, macht sich strafbar. Da aber bislang keine Labor-Untersuchungen vorliegen, kann selbst die Stiftung Warentest nicht bewerten. Der Käufer kann sich also lediglich über die Kenntnis der Herkunft und des Vertriebsweges Sicherheit verschaffen.
Deshalb habe ich meine eigenen, möglicherweise laienhaft anmutenden Versuche auch ausschließlich als Selbstversuche verstanden.
Immer ausgehend von jenem aus Thailand mitgebrachten genetischen „Urstamm“, habe ich mich über alle vorstellbaren Varianten vegetativer Vermehrung informiert. Die Kenntnisse, die ich im eigenen „Atelier-Labor“ entwickelte, reichen inzwischen von Rhizomen, Absenkern, bis hinzu Stecklingen in Steinwolle-Pfropfen in schwimmenden Wurzelsystemen. Natürliche Wurzelförderer wie Algenextrakt und alle möglichen Varianten von Tierdung haben wir im Laufe der Jahre verglichen.
Diese Erkenntnisse wurden und werden in Foren und bei Facebook diskutiert. So ist ein wertvoller Ideen-Pool entstanden.
Rezepte
Die Integration in unseren Ernährungs-Kreislauf hat sich ebenfalls erfreulich entwickelt. Da Jiaogulan über geringen Eigengeschmack verfügt, sind frische Blätter praktisch mit jedem Salat kombinierbar.
Kuriose Varianten mit Getränken, wie Jiaogulan-Holunderblüten-Sekt, wie diverse Kräuterliköre verheißen zwar nette Geschmacksvarianten, über das Verhältnis von Wirksamkeit und Alkohol wissen wir jedoch so gut wie nichts.
Ausgekochte Teeblätter in Spinat gemischt, kennt man auch in Thailand und China. Auch in Tierfutter wird dieser letzte Rest ehrfurchtsvoll einer allerletzten Nutzung zugeführt.
Kunst Maltherapie
Die radiologische Behandlung, die Bestrahlung von Zunge, Kehlkopf und Umgebung mit hochdosierten Strahlen endete in einer katastrophalen Schlussphase. Die bizarren Gerüste von Zahnkronen hatten zickzackförmige Blasen rund um meine zuvor operierte Zunge entstehen lassen. Mit jeder Bestrahlung wurden diese größer. Den unerträglichen Schmerz versuchte man mit Morphium in den Griff zu bekommen. Mein anfängliches Gejammer wich einem qualvollen Gewimmer. Zuletzt krallte ich mich nur noch mit schmerzverzehrtem Gesicht in den Teppichboden. Ein weiteres Problem gesellte sich hinzu: Morphium reduziert die Kontraktionen des Magens und die Peristaltik der Speiseröhre und des Schluckverhaltens. Bald verließ jeder Löffel Suppe den Körper auf dem gleichen Weg, wie sie ihn betreten hatte. Man sagte mir, der Bestrahlungsablauf könne auf keinen Fall unterbrochen oder reduziert werden. Ich verlor 15 Kilo in kurzer Zeit, Selbstvertrauen und Überlebenswillen. Im Rollstuhl wurde ich für die begleitende Chemotherapie an den Tropf gefahren.
Da sich das ganze Drama bereits über ein halbes Jahr erstreckte, gerieten wir zudem in wirtschaftliche Bedrängnis. Als Künstler hat man neben einer kontinuierlichen Produktion wenig Sicherheiten. Schon gar nicht, wenn man in der Provinz lebt und weder über Mäzene oder offizielle Förderung verfügt.
Unter dem Dach, in meinem Atelier wartete jedoch mein letzter Auftrag still und vorwurfsvoll auf der Staffelei: ein großformatiges Gemälde für die holländische Reederei Kotug.
Ich ließ mir eine „PEG“, eine Magensonde auf eigenen Entschluss legen und informierte mich bei meinem Hausarzt über sogenannte „Astronauten-Nahrung“. Diese können beispielsweise Koma-Patienten oder Verbrennungsopfer über einen Tropf zugeführt werden. Offiziell hatte mich niemand über diese Möglichkeit informiert. Ich bin mir im Nachhinein nicht sicher, wann genau mich der Gedanke beschlich, aber ich Glaube, in dieser Situation entstand meine Vorstellung von dem, was ich heute unter „Patientenkompetenz“ verstehe.
Ein wenig, aber auch nur ein wenig Kraft kehrte zurück, der materielle Druck, die finanziellen sorgen stiegen. Die Schmerzen blieben nicht nur, mit jeder Bestrahlung wurden sie unerträglicher. Eines Morgens kämpfte ich mich Stufe für Stufe, am Handlauf hochziehen die Treppe ins Atelier hinauf. Immer wieder innehaltend, verschnaufend, von Zweifeln geplagt: „Du bist von dieser starken Morphium-Dosierung richtig matschig im Kopf – Du versaust das Gemälde. Lass es sein!“
Irgendwie habe ich es an die Staffelei geschafft. Anfangs unsicher, lange musste ich über treffende Farben und Pinsel nachdenken. Aber irgendwann gab ich wohl das besorgte und grüblerische Regiment ab. Einige Stunden später war ich „im Bilde“, als wäre wenig geschehen, was mich davon hätte abhalten können.
„Du hast überhaupt noch nichts gegessen – und wie bist Du eigentlich hier hoch gekommen?“ Die Stimme meiner Frau Susanne holte mich unvermittelt in die Realität zurück. „Und was machen Deine Schmerzen heute?“
Plötzlich waren sie wieder da – in voller Härte und mir war, als entströmte mir meine Kraft wie einem angestochenen Luftballon.
Der Morphium-Entzug – und ich benutze diese Bezeichnung mit einigem Ausdruck – sollte nach Meinung meines Hausarztes nicht gerade mit einem „Cool Turkey“ einhergehen. Tat er dann aber doch. Nach Schüttelfrostnächten mit von Schweiß durchtränktem Bettzeug und einem harten Aufwachen auf dem Fußboden des Badezimmers habe ich einen Mordsrespekt vor Junkies, die diesen qualvollen Prozess durchstanden.
Später las ich im Stern, dass mir diese Torturen, Nebenwirkungen und Entzug erspart geblieben wären, wenn man sich in Deutschland endlich für eine Liberalisierung von THC entschließen würde. Aber solange kenntnisarme Parlamentarier Schmerzpatienten wie Kiffer einstufen, bleibt dieser Weg leider unnötig steinig.
Das Gemälde wurde also nach und nach in kleinen Schritten fertig. Ich meine sogar, dass man ihm am Ende nicht ansah, unter welch grenzwertigen Bedingungen es entstand. Weit wichtiger noch: ich hatte Lebenswillen und Motivation für meine eigene Form von einem Kampf gegen „meinen Krebs“ zurück erobert.
Jahre später entwickelte ich aus dieser Erkenntnis eine eigene Maltherapie. Als ich diese kostenfrei für Schmerzpatienten in den Westküstenklinken zur Verfügung stellen wollte, lehnte man mein Angebot, mit der Begründung ab, mir würde die notwendige pädagogische Ausbildung fehlen.
Stark gegen Krebs
Die Tatsache, dass meine Freunde und Mitstreiter des sogenannten „Wattikan“ seinerzeit mit der Benefiz-Veranstaltung „WATTOLÜMPIADE“ bereits über 120.00.- Euro and die Schleswig-Holsteinische Krebsgesellschaft und dieverse andere Einrichtungen gespendet hatten, sollte noch kein Garant für die Anerkennung der Gemeinnützigkeit sein. Man war unumstößlich der Meinung, dass ein einziges Veranstaltungswochenende hiefür kein hinreichendes Argument sei. Daher weiteten wir unser Konzert aus und veranstalteten 2008 erstmals die „Brunsbütteler Krebsinformationstage“, die jeweils über mehrere Wochen laufen. Da diese inzwischen von Krebsbetroffenen und deren Freunden und Familien außerordentlich geschätzt werden, kann man dem Finanzamt für diese Entwicklung fast dankbar sein.
Eine Galerie bietet als Veranstaltungsort deutlich weniger Barrieren als eine Klinik. Die eingeladenen Referenten werden grundsätzlich aufgefordert, ihre Vorträge aus Patientensicht zu gestalten. So ergab sich ein interessanter Mix aus Lesungen mit krebserfahrenen Autorinnen wie Rex von Firx ?? , Miriam Piechau und Miriam Köthe, dem Klinik-Hypnotiseur Jan von Berg und zahlreiche Onkologen zu Themen wie beispielsweise IMRT, Brachy-Therapie, Zytostatika, genetisch bedingter Erkrankungsgefahr, Fatique und psychosozialen Aspekten.
Razuan !!
Gleichzeitig setzt sich jede Informationsreihe auch mit ganzheitlicher Behandlung und Komplementärmedizin auseinander. Dabei kommt dem Interesse an Jiaogulan ein ganz besonderer Stellenwert zu.
Die eingeladenen Referenten lassen sich sogar von unserem Engagement inspirieren. So nahm beispielsweise der selbst krebsbetroffene Arzt Dr. Bernd Schmude die Idee unserer Initiative „Stark gegen Krebs“ mit nach Frankfurt zurück. Dort gründete er die Parallel-Initiative „Stark gegen Krebs e.V.“ mit bundesweiter Vernetzung und stabilem Vereinstatus. Ein Teil der Benefiz-Erlöse des Vereines landet bei uns, der Urmutter des Gedankens.
Die erste Generation
Über einen Dithmarscher, der in Peking mit einer Chinesin verheiratet ist, erhielt ich 2006 eine große Menge Jiaogulan-Samen. Diese stammten direkt aus jener Region der Hundertjährigen, unweit der Fundstelle der Terrakotta-Armee. Unser neuer Freund versorgte uns nicht nur mit unübersetztem Schrifttum über die TCM und zahlreichen Naturpräparaten – er nahm auch Kontakt zu Professor Li Pei Wen auf. Sein Eifer wird verständlich, wenn man weiß, dass seine Mutter sich im WKK Heide gerade einer Chemotherapie unterziehen musste. Leider starb sie wenige Monate später.
Für uns schien alles auf einem besseren Weg, denn die Samen ließen gute Zuchten und weitere kostenlose Kulturen für Krebsbetroffene erwarten.
Meine Prognosen im Internet und in einem Interview der Lokalzeitung riefen jedoch einen Warnruf und einige tiefgreifende Gespräche ins Leben.
Ein holländischer Gentechniker, der sich in Dithmarschen um Kohlveredelung und stabile Nachzucht kümmert, riet sehr dringend von der Nachzucht aus Samen ab:“ Niemand schreit heute mehr auf, weil holländische Treibhaus-Tomaten kaum noch wie ihre italienischen Ursprünge schmecken und wie der hier angebaute Chinakohl einmal im Ursprungsland schmeckte, weiß ohnehin niemand, aber Sie versuchen, hier in diesem Klima Heilkräuter anzusiedeln. Da muss man verantwortungsbewusster als bei Gemüse vorgehen!“
Für mich als Laien, an dem in der „Volksschule“ sogar das Basiswissen um Mendels Theorien vorbei geglitten war, folgten Belehrungen, die meine Sicht weiten sollten.
„Sagen Ihnen Namen wie Lyssenko und Mitschurin etwas?“ Ich erinnerte mich schwach an den Barfußprofessor und den Gartengott, die mir bei meinen Stöbereien im Internet begegnet waren. Sprossmutationen und winterfähiger Weizen aus Odessa.
„Wenn ich mich recht erinnere, gehörte Mitschurin in der DDR zum Standardunterricht?“
„Ja, aber primär, weil er entdeckte, dass Marmelade Fett enthält.“
Den Satz hatte mein Opa aus Stavenhagen mitgebracht:
„Drum essen wir zu jeder Speise Marmelade eimerweise“
Mitschurin kreuzte geradezu besessen hunderte von Obstsorten. Sie sollten vor allem frostsicher sein, weil er an eine Nutzung in Sibirien dachte. Die Winterbutterbirne und die ertragreiche Antonowka, die es locker auf anderthalb Pfund brachte.
Solche Informationen gehören anscheinend heute zum Standardwissen von Gentechnikern und Agrarökonomen.
„Der Mitschurin hat alles wild miteinander gekreuzt, Kürbisse mit Melonen, Mandelbäume mit Pfirsichen und nannte das dann „ Liebesheiraten verschiedener Pflanzenarten“.
Das war zwar sehr interessant und ich mag solche Gespräche, aber „Was hat das mit unseren Jiaogulan-Samen zu tun?“
Mein holländischer Experte wusste auch hierauf eine Antwort: „Mitschurin lieferte uns Gentechnikern geniale Steilvorlagen. Er kastrierte Pflanzen, um auszuschließen, dass sie sich selbst befruchteten. Er schickte Bauern mit Pinzetten und Pinseln über die Äcker, um Staubbeutel zu entfernen und Pflanzen künstlich zu bestäuben. Dafür haben wir in Marne hermetisch abgeschlossene Treibhäuser mit Bienenschleusen.“
Mitschurin war auch der Vorreiter der sogenannten „Jarowisation“, so nannte er die Versommerlichung des Weizens. Das Getreide wurde vor der Aussaat in „Keimstimmung“ gebracht, als würde es sich um Tiere handeln. Die Samen wurden rund um die Uhr beleuchtet, mit Schwarzlicht bestrahlt. Offene Fenster sorgten für Minusgrade.
„Ja, man glaubt sogar, dass man Weizenkeime, wenn man sie lange genug in einen Kühlschrank legt, auch in den Frostregionen Sibiriens anbauen könnte.“
„Und ich habe mich immer gefragt, woran es wohl genau scheitern würde, auf Sylt Palmen-Alleen anzulegen. Immerhin sieht der Sandstrand einigen Südseeinseln doch sehr ähnlich.“
„Ich nenne das mal höflich einen „kreativen Darwinismus“, und diese Vision macht Gärtner und Pflanzengroßhändler reich“, urteilte mein Gesprächspartner.
„Der schnelle Käufer urteilt über Optik und Preis. Überlebt die schöne Bogaivillea nicht, oder das Gemüse schmeckt nach nichts, dann hat er halt Pech gehabt und sucht den Fehler bei sich selbst.“
„Ja klar – und wer reklamiert schon, wenn Herbst und Winter nach dem Erwerb der Pflanze bereits ins Feld zogen?“
„Sehen Sie, so langsam verstehen wir uns! Und Sie wollen eine Pflanze von möglicher medizinischer Bedeutung so einfach aus Samen züchten? Ihr fehlt nahezu alles, was ihr half, im Ursprungsland Kraft und Wirkung in ihren Genen zu entwickeln: der Sonnenlauf und der langsame Anstieg der Tagestemperatur, gleichzeitig der Abfall der Nachtfeuchtigkeit, die Lichtstärke und die Dauer der Dunkelphase. Haben Sie darüber überhaupt Kenntnisse, Herr Rusch?“
„Nun, die könnte ich mir über das Internet erarbeiten, außerdem habe ich Kontakt zu „Siamese Traders“, einer ökologisch arbeitenden Plantage in Chiang Mai.“
„Und wenn Sie die Informationen haben, wie simulieren Sie dann diese Umweltbedingungen?“
„Keine Ahnung, keine Möglichkeiten“ – ich musste passen. Mein Plan schien wie eine Seifenblase zu platzen. Mein Gesprächspartner schien meine Resignation zu bemerken:
„Ich werde Ihnen jetzt einmal etwas über eine sichere Möglichkeit erzählen, über die sogenannte „vegetative Vermehrung“, die man auch „genetische Vermehrung“ nennt, aber lassen Sie bitte den Unfug mit den Samen.“
Doch zunächst erzählte er mir noch, weshalb ihn der Zeitungsartikel dazu gebracht hatte, das Gespräch mit mir zu suchen. Sein Bruder war an Krebs gestorben. Eine Chemo und eine Operation hatte er konsequent abgelehnt und stattdessen auf eine sogenannte „alternative Heilmethode“ vertraut. Dabei hatte er ein kleines Vermögen an unsinnige Methoden und Rezepturen vergeudet. Er nannte mir einige davon, aber ich habe mich entschlossen, diese nicht zu nennen, um Betroffenen, die möglicherweise bereits solche „Therapien“ begonnen haben, nicht zu verunsichern.
„Eine Pflanze, die nicht aus einem Samen, sondern aus einem genetisch originalem Teil einer Ursprungspflanze entwickelt wurde, also aus der sogenannten „ersten Generation“ enthält deutlich mehr ursprüngliche Anteile. Die Folgen dieser „vegetativen Vermehrung“ lassen sich bei Obst und Gemüse leicht durch den Geschmacksverlust verifizieren. Bei medizinisch relevanten Wirkstoffen geht das nicht so einfach. Die können sie weder sehen, noch riechen, noch schmecken.“
„Ja, aber wie kann ich dann sicherstellen, dass eine Pflanze nicht verfälscht in die Hände von Betroffenen gerät?“
„Es gibt nur eine Methode – weisen sie den gesamten Pfad der Gestehung dieser Pflanze nach – und verteidigen sie ihn!“
*Anschluss an vorliegendes Manuskript:
Das Schwert gegen die Hydra in meinem Körper, die so unvermittelt und brachial mein Leben gefährden sollte, würde jemand anders führen. Ich lernte Professor Rudert als besonnenen, souveränen Menschen kennen, dessen Abschlußarbeit die Entfernung des daumennagelgroßen Tumors aus meiner Zunge werden sollte. Danach würde er in München seinen Ruhestand endlich seiner Familie widmen. Was konnte das für mich bedeuten? Entweder profitierte ich von lebenslang erprobter Routine oder fiel der bereits zittrigen Hand eines alten Chirurgen zum Opfer. Die Sorgen zerstreuten sich auch nicht, als ich erfuhr, dass er lediglich die operativen Einsätze seines Chefchirurgen überwachen würde und nur noch selten selbst zum Skalpell griff.
Nach der Operation konnte ich trotz Sprechkanüle im Luftröhrenschnitt nicht sprechen. Der Kehlkopf, die Stimmbänder hätten durch den Tubus bei der Anästhesie Schaden genommen:
„Wir mussten das Röhrchen geradezu um die Ecke schieben.“ Ein Narkosearzt bedient sich des Vokabulars eines Klempners. Vermutlich schafft das Distanz.
Mein Schwiegervater schaffte einen Laptop heran. Bald erschien auf Tastendruck in großen Buschstaben: “JA; ES TUT WEH!“ So empfing ich tagelang jeden Besuch.
Mit einem Lehrbuch beschäftigte ich mich mit Photo-Impact und erprobte erste Schritte zum Aufbau einer eigenen Website. Während wir einige Tage auf die Analyse des per Laserschwert entfernten Tumors warteten.
„Die Kraft sei mit Dir“.
Es sollte aber anders kommen.
Die Ganzkörpertomographie hatte unendlich lange gedauert. In jeder Region des Körpers wurde nach Heckenschützen gesucht, nach Schläfern und Doppelagenten. Durchfall und ein starker Husten machten die enge Röhre nicht gemütlicher. Das maschinengewehrartige Geknatter klang nach erster Fronterfahrung: „Einatmen, Luft anhalten, Klick, ausatmen.“
Die Salamitechnik, mit der man lebende Körper in analysierbare Scheibchen zerlegt.
„Versteckt euch ruhig, ihr Mistdinger – wir werden euch finden.“
Das Gefühl ein starkes Instrumentarium einer Uni-Klinik ins Feld führen zu können und mit kampferprobten Ärzten im Schützengraben zu liegen, inspirierte mich später zu einer kurzen Glosse.*
Die Kraft war noch mit mir, aber sie verließ mich schlagartig, als Prof. Rudert mich und Susanne in sein Besprechungszimmer bat. Suse hatte mich nach der Tomographie gestützt und gemeinsam waren wir bedächtig, geschwächt und grübelnd zu meinem Feldlager zurück geschlichen.
„Leider habe ich schlechte Nachrichten für Sie. Wir haben ihren Tumor nicht komplett erwischt.“
Es war jetzt also „ mein Tumor, mein Besitz, meine Schuld, mein mögliches Verhängnis“.
„In einer weiteren Operation werden wir weit ins Gesunde schneiden. Fasern Ihres Tumors reichen schwer visualisierbar in Zunge und möglicherweise auch weiter.“
Noch stand ich, noch war die Kraft mit mir.
„Ich muss Sie jetzt mit einer Möglichkeit vertraut machen, mit einer Wahrscheinlichkeit. Leider können wir erst während der Operation über diese Schritte entscheiden. Dann kann ich Sie aber nicht aus der Narkose holen, um sie um Ihre Einwilligung zu fragen.“
Ich erfuhr nun also, dass man mir möglicherweise meine Zunge komplett entfernen müsse. Da dieser Eingriff per Laser nicht zu bewerkstelligen wäre, müsse man den Unterkiefer zersägen und wie ein Scheunentor öffnen.
„Aber machen Sie sich keine Gedanken, wenn sie aufwachen, sind Ihre Unterkiefer mit Draht wieder zusammen gefügt. Die T-förmige Narbe können sie ja später von einem Bart überwachsen lassen. Frauen können das nicht.“
Der letzte Satz sollte vermutlich ein lockerer Ausflug in die Realität sein. Das war diese schöne Welt, die mir gerade den Rücken zugekehrt hatte.
„Natürlich ergibt das am Zungengrund eine ziemlich große Wunde, die „gedeckelt“ werden muss. Das machen wir gewöhnlich mit diesem Hautlappen.“
Er zeigte auf meine Pulsadern am Handgelenk.
„Eine Weile muss dieser optimal durchblutete Hautlappen noch mit ihrem Arm verbunden bleiben, während er bereits den Zungenstumpf abdeckelt. Hierfür wird Ihr Arm einige Wochen am Kopf fixiert…“
Beim letzten Satz bin ich mir nicht sicher, ob er ihn wirklich so gesagt hat. Ich höre noch ein dumpfes Plumpsen auf hartem Kachelboden.
Als ich wieder klar denken konnte bemerkte ich auf dem Raucherbalkon eine Gruppe amüsierter Frischoperierter. Wenn sie sich auf die Brust klopften, kamen aus dem Tracheostoma lustige Rauchringe. Es schien sich um einen Wettbewerb zu handeln. Als es einem der Patienten gelang, einen kleineren Ring durch einen Grossen zu blasen, wurde laut und begeistert geklatscht.
Professor Rudert machte einen betroffenen Eindruck, jedenfalls hoffte ich, dass es ein solcher sein könnte: „Wir haben, soweit möglich ins Gesunde gelasert. Leider wird erst die endgültige Analyse des entfernten Gewebes (inzwischen daumengross) darüber entscheiden, ob die Zunge komplett entfernt werden muss.“
Suse nahm sich ein Zimmer im benachbarten Hotel Reuter und ich machte mir Gedanken darüber wie sinnvoll Angehörigenzimmer sein könnten. Das qualvolle Warten auf den Gewebebefund Lässt sich gemeinsam besser ertragen. Das Lernen am Laptop wurde durch die Schmerzmittel immer holpriger.
Der Befreiungsruf wurde seitens des Klinikteams geradezu zelebriert. So, als würden sich alle ehrlich mitfreuen. Ich weiß nicht, wie oft es vorkommt, dass Klinikpersonal und Patienten gemeinsam Tränen in den Augen haben. Immerhin ist Verdrängung hier ein Mittel psychischer Stabilisierung. Aber es handelte sich schließlich um Freudentränen. Der Tumor war raus. Ein erster Etappensieg.
Zwischen diesen Operationen und der späteren Bestrahlungs-Orgie, wie ich sie von anderen Patienten nennen hörte, lagen die Weihnachtsferien. In dieser Zeit festigte sich ein Gefühl der Dankbarkeit, das hilft sonst nur nach dem Aufwachen und während der Folgetage auf den Intensivstationen. Man hatte mir mein Leben vorerst erhalten – und ich verspürte den Wunsch, irgendetwas zurück zu geben.
Etymologie der Hoffnung und der Verdrängung
Die deutsche Sprache ist verräterisch. Dringt man zu ihren Wurzeln, so kommt nach dem bedeutendsten Wortmetz der deutschen Nachkriegsliteratur Arno Schmidt „Allerlei zum Vorschwein“. Man kennt verniedlichende Wortschöpfungen, wenn es um die Lagerung von Atommüll geht. Da spricht man frech und beschönigend von “Entsorgungsparks“. In meiner Heimatstadt verpackt man die Ratlosigkeit in „Interimslager“. Dass man eine noch näher definierende Distanz bei der Entdeckung meines Tumors – der sich ja immerhin ziemlich in der Mitte meines Kopfes befand – mit dem Wort „Raumforderung“ umschrieb, ist ein schönes Beispiel von Chaos-Poesie. Wem aber hilft diese poetische Distanz? Nimmt das Wortspiel den Schrecken? Oder erleichtert es den Depeschen-Dienst für den Überbringer der Botschaft?
Als mir die Lymphknoten während der „Radical Neck-Desection“ an der gesamten linken Kopf- und Halsseite entfernt wurden, sprach man danach von einem meisterhaft vernähten „Golfschläger-Schnitt“. Diese Form hat die 35 cm lange Narbe auch tatsächlich. Sie reicht vom oberen linken Ohrbogen bis übers Schlüsselbein zum Kehlkopf. Ihre ganze Schönheit erzielte sie, weil mir praktisch das halbe Gesicht hochgeklappt wurde, um Lymphknoten fein säuberlich von Sehnen und Muskeln, Gefäße und Schlagader zu „schälen“. Mimik und Lippenbewegung nahmen dauerhaft Schaden.
Aber es gibt ja auch positive Wortschöpfungen – und dass ein „negativer“ Befund etwas durchaus Positives bedeuten kann, hat der Krebspatient schnell rausgefunden.
Dieses zumindest bei der Jagd nach Rezidiven, nach Metastasen oder „Trabanten“.
Die Bezeichnung „Unsterblichkeitskraut“ hatte für mich von Anfang an etwas überaus poetisches, es machte mir einfach Hoffnung. Nein, wirklich unsterblich, das wollte ich ja gar nicht werden – aber ein paar Jährchen dürften es gern noch sein. Zumindest, um die wichtigsten der noch ungemalten Bilder noch auf die Leinwand zu bringen.
Diese poetische Übersetzung des Wortes „Jiaogulan“ scheint aber nicht nur für mich diese Ausstrahlung zu haben. Das erfahren wir immer wieder in Gesprächen mit Krebsbetroffenen oder gesundheitsbewußten Menschen. Dabei kennen durchaus auch andere Kulturen dieses Wort. Das altgriechische „Aezoon“ bedeutet „ewiges Leben“ und ist eine Umschreibung für ein Kraut, das der Volksmund auch „Moui“ nennt und Glaukos zugeschrieben wird. Der Sohn des Königs Minos, der durch den Genuss dieses Krautes unsterblich wurde, sei mittels dieses Krautes vom Tod auferstanden. Deshalb tauchen auch ihre Namen in der poetischen Beschreibung dieser Pflanze auf.
Bekannt ist auch der Kräuterbezug, der zum Symbol der doppelhelix-artig gewundenen Schlange führte, das jede Apotheke im Logo führt.
Als der Sohn des Königs Minos verschwunden war, rief man das Medium Polyeidos. Dieser beobachtete den Flug der Vögel und fand den Jungen in einem riesigen Honigtopf. Er war beim Naschen darin ertrunken. Gegen seinen Willen wurde Polyeidos mit Glaukos in der Gruft eingesperrt, um ihm das Leben zurück zu geben. Als sich eine Schlange durch eine kleine Maueröffnung dem Leichnam näherte, erschlug Polyeidos diese mit einem Stein, denn er wollte, dass Glaukos die Unterwelt unversehrt erreiche.
Kaum hatte Polyeidos den Schock verwunden, kroch eine zweite Schlange in die Gruft. Als sie den toten Artgenossen bezüngelt hatte, kroch sie ins Freie zurück. Nach kurzer Zeit jedoch kam sie wieder, ein grünes Zweiglein im Schlangemaul. Sobald sie das tote Tier damit berührte, kehrte das Leben in das Tier zurück.
Polyeidos, der den Vorgang erstaunt verfolgt hatte, nahm das Kraut und berührte damit das Knäblein Glaukos. Dieser begann augenblicklich sich zu bewegen. Und so kehrte Glaukos ins Leben zurück.
Dieser Mythos wurde zum richtungweisenden Symbol für Alchimisten, Kräuterheilkundler – und heute halt für Apotheker und Pharmazeuten. Wir wissen nicht, welches Kraut die Schlange brachte. Es könnte auch Jiaogulan gewesen sein – oder etwas ganz anderes.
Das Symbol steht seit Jahrhunderten für die unablässige Suche des Menschen nach Heilkräften, primär in der Natur und da soll mir eine poetische Sprache, ganz gleich, ob sie nun Nähe oder Distanz schafft, durchaus recht sein.
Autor: Jens Rusch

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